Dass historische Gymnasialbibliotheken zu jenen Buchsammlungen gehören, die als besonders gefährdet bezeichnet werden können, dürfte den Leserinnen und Lesern dieses Blogs längst bekannt sein. Wenn sich eine Schule noch heute mit einer historischen Bibliothek schmücken darf, ist das eine Besonderheit. Dass hingegen das Verschwinden solcher Orte besonders gründliche Formen annehmen kann, ist am Beispiel des ehemaligen Gymnasiums Duppau zu sehen.
Von einigen Sammlungen ist bekannt, dass sie – wenn auch möglicherweise nicht vollständig – als Sondersammlungen in größeren Bibliotheken aufbewahrt werden. Das trifft etwa auf die Bestände des ehemaligen Lyzeums in Kremenez zu, die 1831 in den Gründungsbestand der heutigen Universitätsbibliothek Kiew eingingen.1 Die Lehrerbibliothek des ehemaligen Gymnasiums Troppau (Opava) ist zum Teil in das spätere Schlesische Landesmuseum eingegangen.2 Bestände ehemals deutscher Gymnasien sind oft zum Großteil verloren. Nur sehr selten finden sich entsprechende Provenienzeinträge in Büchern von Bezirks-, Landes- oder Universitätsbibliotheken, wie einige Beispiele ehemaliger Gymnasialbibliotheken in Nordtschechien zeigen.3
In manchen Fällen existieren noch die Gebäude, in denen sich die Bibliotheken befanden; gelegentlich beherbergen sie bis heute Gymnasien oder Oberschulen. Dann zeugt wenigstens noch die Architektur von der Einrichtung einer ehemaligen Schulsammlung. Auch diese Spuren, die „Hüllen“ einstiger Bibliotheken, sind von Zerstörung bedroht, was in Anbetracht von Kriegen und politischen Veränderungen nicht verwundert. Aber auch hierbei gibt es Eskalationsstufen: Der Katalog der Wissenschaftlichen Bibliothek Liberec weist Bestände ehemaliger Gymnasialbibliotheken aus verschiedenen Städten auf, darunter aus einem Ort namens Duppau, einer Stadt, die heute gänzlich von der Landkarte verschwunden ist. Der Wikipedia-Eintrag zum ehemaligen Ort Duppau beginnt mit den Worten: „Doupov (deutsch Duppau) ist eine Wüstung auf dem Truppenübungsplatz Hradiště im Okres Karlovy Vary in Tschechien.“
Dass Bibliotheken sich in Luft auflösen, Bestände in alle Himmelsrichtungen verteilt werden und Sammlungen kaum mehr rekonstruiert werden können, ist ein häufiges Phänomen. Doch dass eine Bibliothek samt des Schulhauses und schließlich der gesamten Stadt, in der sie aufbewahrt wurde, verloren geht, kann als Sonderfall betrachtet werden.

Etwa hundert Jahre bevor das Städtchen dem Erdboden gleichgemacht wurde, beschreibt der Historiker Johann Gottfried Sommer den Ort und seine Umgebung wie folgt:
Die Oberfläche ist gebirgig. An der südwestlichen Seite erstreckt sich ein theilweise zur Hft. Gießhübel gehöriger Bergrücken, aus welchem sich die Bergspitze Burgstadtel erhebt, welche eine Burgruine unbekannten Ursprungs trägt und von welcher man nicht nur das ganze Erzgebirge, sondern auch bei reinem Horizonte den Milischauer Berg und andere Kuppen des Mittelgebirges […] deutlich wahrnehmen kann.4
Alte Postkarten zeigen die hügelige Landschaft, in deren Tal sich das Städtchen Duppau ausstreckt [Abb. 1]. Dabei wird auf den ersten Blick die Bedeutung der Schule für das Stadtbild ersichtlich: Der Komplex erhebt sich wie ein Herrschaftsgebäude aus der Ortsmitte heraus und lässt alle übrigen Gebäude klein und dörflich erscheinen.
Der Anschein der Dörflichkeit dürfte noch Mitte des 19. Jahrhunderts kein falscher gewesen sein. In seinem Statistisch-topographischen Bericht nennt Sommer eine Einwohnerzahl von 2492, von denen die meisten in der Landwirtschaft, im Handwerk oder als Tagelöhner tätig waren.5 Es soll einen Bäcker, mehrere Bierschänker, Müller und Leinweber, Faßbinder, Schneider, Schuhmacher und Tischler gegeben haben.6 Mühselig muss die Erwerbstätigkeit der „unbefelderten Einwohner“ gewesen sein, denn diese „kaufen im Gebirge Butter, im Lande Obst, Geflügel etc. ein und treiben damit Hausirhandel nach Karlsbad oder in die Gebirgsstädte, selbst bis nach Sachsen.“7
Sommers Darstellung zählt eine Pfarrkirche, eine Pfarrei, eine Mädchenschule, eine Begräbniskirche, ein Piaristenkollegium mit Kirche und eine Hauptschule auf, darüber hinaus ein „herrschaftliches Schloß mit einem großen Küchen- und Obstgarten nebst Baumschule“, ein Amtshaus, einen Maierhof, ein Brau- und ein Branntwein-Haus, eine Apotheke, mehrere Wirtshäuser und zwei Mühlen.8 Außerdem gab es eine ärarische Briefsammlung,9 eine Vorgängerversion der heutigen Postfilialen. Vom Gymnasium, das seit dem 18. Jahrhundert bestanden hatte, ist in diesem Text keine Rede, da es in der Zeit, aus der das Buch stammt, geschlossen war: „Wegen Unzulänglichkeiten der Mittel wurde es mit Schluß des Schuljahres 1832 zeitweilig aufgelassen und es verblieb bloß eine Knabenhauptschule […].“10
Finanziert wurde das Gymnasium bis dahin durch einen Stiftungsfond, der 1756 von Anton Joseph Edler von Clement (1701–1783) gegründet worden war.11 Mithilfe adliger Spender, die den Fond von Beginn an unterstützten,12 konnte das Geld zur Gründung eines Gymnasiums aufgebracht werden, das „zunächst der Leitung und Obsorge der Patres von der Gesellschaft Jesu anvertraut [wurde]. Nach der Aufhebung dieses Ordens (1773) übernahmen die Piaristen den Unterricht am Gymnasium.“13
Um das Gymnasium nach seiner ersten Schließung wiedereröffnen und das große Gebäude wieder mit Leben füllen zu können, wurde in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts eine Lotterie veranstaltet, die den Stiftungsfond erfolgreich vermehrte.14 Nicht nur die Lotterieeinnahmen, sondern auch bürgerliche, adlige und kaiserliche Spenden ermöglichten schließlich 1864 die Wiedereröffnung der Einrichtung als Untergymnasium. Doch nur wenige Jahre später führten neue Schulgesetze dazu, dass die Schule erneut ihren Titel als Gymnasium verlieren sollte: Die Anforderungen an den Grad der wissenschaftlichen Ausbildung von Gymnasiallehrern wurden erhöht, sodass die Schule, die bislang von Piaristen geführt wurde, keine gesetzlich zugelassenen Lehrkräfte mehr stellen konnte. 1876 wurde die Schule wieder geschlossen.15
Durch Beschluss der Prager Erzdiözese, die Zahl der deutschen Priester zu erhöhen, erhielt das Gymnasium eine letzte Chance: 1896 wurde das Studentenkonvikt wiedereröffnet, unter der Bedingung, auch das Gymnasium zu reaktivieren. Dieses wurde einige Jahre als Untergymnasium geführt und ab 1900 zum Obergymnasium erweitert.

Die Folgejahre brachten dem Ort einen urbanen und wirtschaftlichen Aufschwung. Seit 1902 gab es einen Bahnhof [Abb. 2],16 der Weg von dort in den Stadtkern wurde in den 1910er Jahren mit modernen Bürgersteigen ausgestattet, was dem Ort ein städtisches Aussehen gegeben haben dürfte.
Auch eine Zunahme von Neubauten und sonstigen Verschönerungen ist zu verzeichnen, alte Schindeldächer werden durch Schieferdächer ersetzt. Besonders gereichen die drei neuen Villen, das neue Bahnstationsgebäude, die Bahnrestauration, das Sparkassagebäude nebst anderen neuen Gebäuden der Stadt zur Zierde. Vor einigen Jahren bestanden die Häuser noch größtenteils aus Holzwerk, die Häuserreihen waren noch unregelmäßig. […] Wohl wird ein verwöhnter Großstädter in Duppau noch so manches missen, doch hat sich das Städtchen gerade in den letzten Jahren wahrlich redlich bemüht, sich zu schmücken und zu vergrößern und verspricht daher, sich auch fernerhin als Metropole des Bezirkes und als Gymnasialstadt immer repräsentabler zu gestalten.17
Auch der Bildungsstand der Bevölkerung veränderte sich und generell müssen der Anschluss an die Bahn sowie die Wiedereröffnung des Gymnasiums die Verhältnisse deutlich verbessert haben:
Die drei Kreuzeln statt der Unterschrift kommen hier kaum mehr vor; auch auf den Dörfern ist die Zeit vorüber, wo beim Eintreffen eines Briefes oder eines obrigkeitlichen Erlasses das ganze Dorf zusammenlief, um ihn zusammenzubuchstabieren.18
Das öffentliche Bildungsangebot beschränkte sich nicht nur auf das Gymnasium und die kleineren Schulen. Die Volksschule beherbergte darüber hinaus ein städtisches Museum, „welches so reich und interessant ist, daß sich wohl viele größere Städte nicht messen können.“19
Mit diesen urbanen und gesellschaftlichen Veränderungen der Bezirksmetropole konnte das Gymnasium durchaus mithalten: Bereits kurz nach seiner Wiedereröffnung konnte es eine gut ausgestattete Sammlung an Lehrmitteln vorweisen. Die Schulnachrichten von 1899 verkünden eine reiche Vermehrung der Lehrmittelsammlung, insbesondere der Lehrerbibliothek im vorangegangenen Schuljahr. Die Kosten dafür wurden durch die Zinsen des Kapitals der Clement’schen Stiftung beglichen, Spenden und Schenkungen erweiterten die Sammlungen zusätzlich. Insgesamt wurden in die Lehrerbibliothek 620 Bände „aus der alten Gymnasialbibliothek eingereiht“ und ganze 874 Neuerwerbungen gemacht.20
Wie in vielen Schulprogrammen wurde auch in den Jahresberichten des Privatgymnasiums zu Duppau im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ein Katalog der Lehrerbibliothek veröffentlicht. Dieser weist 1121 Einträge auf sowie den Vermerk, dass die Schule außerdem „über die im Hause befindliche Klosterbibliothek [verfügt], welche gegen 3000 Bände umfasst und Werke aller wissenschaftlichen Fächer enthält.“ Als „Klosterbibliothek“ dürften weitere Bestände des alten Gymnasiums bezeichnet worden sein.21 Und wie in historischen Gymnasialbibliotheken üblich, stellte auch diese Sammlung ihren Nutzern sowohl zeitgenössische Fachliteratur als auch historische Rara zur Verfügung. Das älteste verzeichnete Buch ist eine Inkunabel im Folioformat aus dem Jahr 1485 von Albohazen22 (GW 12117). Auch eine französische23 Plautusausgabe von 1581 und einige Ausgaben aus dem 17. Jahrhundert waren in der Sammlung enthalten.
Über die Geschichte der Bibliothek ist kaum etwas bekannt, doch da das Gebäude durchgehend als Schule genutzt wurde, ist zumindest denkbar, dass ein Teil des Grundbestandes der alten Gymnasialbibliothek schon aus der Gründungszeit des Gymnasiums im 18. Jahrhundert herrührt. Bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg konnte die Lehrerbibliothek auf 4061 Bände erweitert werden.24

Aus den erhaltenen Schulprogrammen lässt sich erkennen, dass das Gymnasium noch mindestens bis 1938 bestanden haben muss. Die offensichtlichen Spuren der Schule verlieren sich nach diesem Jahr; fest steht jedoch, dass der Ort nach 1945 „abgesiedelt“ und als Truppenübungsplatz genutzt wurde. Heute zeugen noch einige Grundmauern von der einstigen Existenz des Ortes Duppau/ Doupovo. Was mit den Beständen der Schulbibliothek geschah, ist, wie so oft, unklar. Dass Teile der einstigen Sammlung in der Wissenschaftlichen Bibliothek Liberec aufbewahrt werden, wird auf der Website dieser Institution unter den Stichworten „Manuscripts, first editions and old prints“ gesondert erwähnt. Die Liberecer Sammlung enthalte „part of the library of the Piarist Gymnasium in Doupov – including works by Bohuslav Balbín, Antonín Koniáš and other significant 17th and 18th century writers“25
- Vgl. Boris Zdanevich: Katalog Inkunabul, Kiew 1974, S. 249; die Bestände sind heute zum Teil in der Ukrainischen Nationalbibliothek. Siehe dazu auch Elisabeth Rudolph: „‚… de peu d’importance‘?
Über zwei Ulmer Ausgaben des Destillierbuchs von Michael Puff von Schrick (1498 und 1499)“ in: Gutenberg-Jahrbuch 99, Wiesbaden, Harrassowitz, 2024, S. 104–115, hier S. 113.
Ich danke Dr. Philip Kraut für den wissenschaftlichen Austausch über diesen Artikel. [↩] - Vgl. den Beitrag auf diesem Blog von Elisabeth Rudolph: „Die Jugend in den hehren Tempel der Natur einführen“, 07. Mai 2024 URL: https://doi.org/10.58079/11ngd. [↩]
- Unter dem Stichwort „Gymnasialbibliothek“ sind im Katalog der Wissenschaftlichen Bibliothek Liberec, URL: https://www.kvkli.cz/, 19 Titel nachgewiesen, die unter anderem aus den ehemaligen Gymnasialbibliotheken Duppau, Saaz oder Leitmeritz stammen. [↩]
- Johann Gottfried Sommer: Das Königreich Böhmen, statistisch-topographisch dargestellt. Bd. 15: Elbogner Kreis, Prag 1847, S. 146. [↩]
- Vgl. ebd., S. 147. [↩]
- Vgl. ebd., S. 148. [↩]
- Ebd., S. 147. [↩]
- Vgl. ebd., S. 149. [↩]
- Vgl. ebd. [↩]
- Peter Muck: „Über Duppau und Umgebung“, in: Jahresbericht des Stiftungs-Obergymnasiums zu Duppau in Böhmen für das Schuljahr 1907–1908, Duppau 1908, S. 1–65 hier S. 58. Ausführlich zur zeitweiligen Schließung des Gymnasiums äußert sich Alfred Grundl: „Die Geschichte des Stiftungsgymnasiums in Duppau, 4. Fortsetzung …“ in: Aus dem Stiftungsgymnasium Duppau. Nachrichten für Alt- und Jung-Duppau und Freunde der Anstalt, Heft 5, Mai 1938, S. 20–31, hier: S. 22. [↩]
- o. A.: Studien-Stiftungen im Königreiche Böhmen 1755–1800, Bd. 3, Prag 1895, S. 21. [↩]
- Muck S. 59. [↩]
- [Anton Grimmer]: „Kurzer Rückblick auf die neueste Geschichte unseres Gymnasiums“, in I. Jahresbericht des Privat-Untergymnasiums zu Duppau in Böhmen für das Schuljahr 1897–1898, S. 1–7, hier S. 1. [↩]
- Vgl.: Muck, S. 60. [↩]
- Vgl.: Grimmer, S. 1. [↩]
- Vgl.: Muck, S. 34. [↩]
- Ebd., S. 33. [↩]
- Ebd., S. 9. [↩]
- Ebd., S. 33. [↩]
- Jahresbericht des Privat-Untergymnasiums zu Duppau in Böhmen für das Schuljahr 1898–1899, Duppau 1899, S. 37. [↩]
- Duppau hatte kein Kloster, Grimmer (S. 1) belegt, dass das alte Gymnasialgebäude auch „altes Kloster“ genannt wurde. [↩]
- Viktorin Panhölzl: „Katalog der Lehrerbibliothek II. Theil“, in: Jahresbericht des Privat-Untergymnasiums zu Duppau in Böhmen für das Schuljahr 1900–1901, Duppau 1901, S. 21 (Nr. 1031). [↩]
- Viktorin Panhölzl: „Katalog der Lehrerbibliothek I. Theil“, in: Jahresbericht des Privat-Untergymnasiums zu Duppau in Böhmen für das Schuljahr 1899–1900, Duppau 1900, S. 19 gibt als Druckort Santander an, es dürfte sich jedoch um die Ausgabe von Plautus’ Komödien aus der Druckerei von Antonius Gryphius in Lyon (1581) handeln. [↩]
- Vgl.: Jahresbericht des Stiftungs-Obergymnasiums zu Duppau in Böhmen für das Schuljahr 1912–1913, Duppau 1913, S. 87. [↩]
- Vgl.: [o. A.]: „Library collections“ auf dem Internetauftritt der Wissenschaftlichen Bibliothek Liberec, URL: https://en.kvkli.cz/about-the-library/library-collections (10.12.2024) [↩]
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Elisabeth Rudolph (22. Januar 2025). ‘Doupov ist eine Wüstung’ – über die Bibliothek
des ehemaligen Gymnasiums Duppau. bibliotheca.gym. Abgerufen am 13. Februar 2025 von https://doi.org/10.58079/134qo